Perdido Street Station - Groteske Architektur des Mischwesens
Es war wohl der Vortrag von Stefan Ekman in der Universität Wien in 2017, der mir den letzten Anstoß gab, um in der bizarren Welt von China Mieville einzutauchen. Den oft genutzten Begriff der "weird fantasy" finde ich eher nichtsaussagend, wenn nicht sogar redundant. Ich denke eher, dass Perdido Street Station ein entscheidender Beitrag zu den Welten des Steampunks darstellt, auch wenn es den Begriff des Steampunks, und überhaupt jegliche Begriffe, sprengt. Der übergroße Roman ist retrofuturistisch, technomagisch und erzählt zugleich von untergehenden Städten und der historischen Ironie.
Ekman analysierte in seinem Vortrag auf der Tagung der Fantastikforschung vor allem die Stadtkarte von New Crobuzon und wie sie im Roman eingewebt wird. Im Gegensatz zu einem Quest, in dem die Helden einen auf der Karte klar definierten Weg folgen, ist die Stadt New Crobuzon ein türmendes Labyrinth. Die Figuren finden sich, fast herumirrend, hier und da wieder, während Nachrichten und Machteinflüsse aus fernen Vierteln stets präsent sind. Die Geschichte bewegt sich durch die Stadt hin und zurück, in Kreisen und verwobenen Netzen. Ekman merkte ebenfalls an, dass viele Sache auf der Karte nicht beschrieben werden. Diese erscheinen zum Teil für die Figuren selbstverständlich, oder geschehen stattdessen im Untergrund, lassen sich sogar erst im Nachhinein verorten. Die vielschichtige Welt ist, im mehrfachen Sinne, dicht. So sauber und konsistent ihr Worldbuilding ist, der Dreck, das Chaos und die Korruption sind ein wesentlicher Teil
der modernen Großstadt.
Im Vortrag wurde die Stadt als "entweder ein Gehirn, oder London mit einem Fluss zu viel" beschrieben. Zwei Flüsse die ineinander fließen und sich in der Innenstadt inmitten magischer und prosaischer Verschmutzung paaren. Meine Erfahrung der ersten Seiten war eine musikalische Vision: zwei Körper, die im Liebesakt verschmelzen, die Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen Spezies, und Spezies die von Menschen als Mischwesen bezeichnet werden könnten. Auch wenn die Statd eine regierende Mehrheit aus Menschen hat, ist sie doch voll von Frauen mit Insektenkopf, Vögeln mit Menschengliedern und Männern mit Kacktushaut. Dazu kommen die Neugemachten, die als Strafe und als Werkzeug der Mächtigen aus unterschiedlichen Quellen zusammengesetzt werden. So wird klar, dass die sogenannten Xenianern nicht "halb menschlich" und keine "Mischwesen", sondern überhaupt nicht menschlich sind. Sie sind nicht halb etwas anderes, sondern ganz sie selbst und haben diese Form schon immer gehabt.
Es gibt zumindest zwei Figuren, die diese Fragen noch weiter vertiefen. Die Künstlerin Lin wird von einem gewissen Mr Motley engagiert, um eine Statue von ihm zu kreieren. Mr Motley erscheint, wie sein sprechender Name selbst impliziert, als eine unbeschreibliche Masse aus ungleichmäßigen Gliedern, das Extrem der grotesken Kombination. Ist er ein Neugemachter? Sein Ursprung wird nie aufgeklärt, doch seine Einzigartigkeit macht seine Darstellung so schwer wie auch nötig.
Der Wissenschaftler Isaac wir dagegen von einem Garuda aufgesucht, ein Vogelmensch, der jedoch seine Flügel verloren hat. Ohne Flügel hat er zwei Beine, zwei Arme und einen Kopf - und doch sieht er sich selbst als unvollständig, als behindert. Dieser Körper bezeichnet den Menschen als anormal und fragt uns dabei, was wir unter Vollständigkeit verstehen, und zeigt, dass Normalität und Behinderung nur soziale Erwartungen sind. Lin kann ihrerseits mit ihrem Insektenmundwerk keine Wörter artikulieren. Sie kommuniziert mit Menschen durch Zeichensprache, doch mit ihresgleichen durch eine komplexe und poetische Aromensprache, für die wiederum die Menschen nicht fähig sind.
Die Stadt verschlingt ihre Einwohner in anachronistischer Architektur. Straßenbahnen und Kanäle sprechen von einer Politik des Öffentlichen, vom komplexen Miteinander dieser Unmenge an disparaten Wesen. Über die Stadt wacht jedoch auch die Himmelsbahn, von der die Ordnungsgewalt stets aus dem massiven Panoptikum herabprasseln kann. Eine Architektur der Autorität, die darum sich bemüht, dass die Mächtigen stets aus dem Chaos profitieren. Doch in den Kanälen entstehen aus dem Abfall der industriellen Magie unerwartete Kreaturen, unter dem Schrott erwachen mechanische Gehirne, die nie träumen, und aus erratischen thaumaturgischen Experimenten entstehen Alptraumfresser, die in der schon geplagten Stadt unaufhaltsam werden. Sie sind der Schrecken der Großstadt selbst, der exzessiven Dichte, des stets wachsenden Abfalls und des rücksichtslosen Profits.
Die Wissenschaftler von New Crobuzon verbinden nicht nur Magie, Technik und Geisteswissenschaft, sondern haben eine weitere Disziplin, die all diese Verbindet. Die wissenschaftlichen Experimente haben eine erratische Methodologie. Im Panoptikum wachen nicht nur Späher und Funkabhörer, sondern auch Psyoniker über den Stand der Bevölkerung. Psychotropische Lichtstrahlen werden mittels eines Spiegelhels abgewehrt, Hirnvibrationen dagegen durch Schläuche umgeleitet, um Feinde zu verwirren. Die Liste der Wunder und Schrecken ist endlos. Ich hätte am Roman fast bemängelt, dass er länger als nötig erscheint - doch gerade dieser Exzess, diese unendliche Entfaltung komplexer Wesen und Landschaften, ist der Herz der Geschichte.
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