Initiationsritus in Evangelion
2012 schrieb ich diese Hausarbeit in einem Seminar zu "Theorien des Heiligen" von Frau Prof. Linda Simonis. Seitdem glaube ich, nichts weiteres zu dieser Serie zu sagen zu haben... Vielleicht ist es wieder an der Zeit, mir die Serie Erneut anzusehen. Eher aber, als dass dieses Schlusswort ewig in der Schublade schlummert, poste ich hier einen Auszug:
3.2-Sekularisierung, die Religion als Fremd
In manchen Punkten wurde schon vorweggenommen,
dass, obwohl sich Evangelion mit uralten Fragen der Religion befasst, diese
die Eliade in den historischen und ,primitiven’ Kulturen untersucht, die Narration
auf die sich diese Analyse bezieht in einer modernen Zeit spielt, sogar in der
nahen Zukunft. Obwohl die darin aufgeworfenen Fragen eventuell ,ewige
Gültigkeit’ in Bezug auf die Menschheitsgeschichte besitzen, ist der
Zeitunterschied keineswegs bedeutungslos, denn es handelt sich hier um eine
Kultur die stark säkularisiert ist.
Keine von den Figuren in Evangelion weist
ein eigentlich religiöses Verhalten auf.
Misato trägt ihr Kruzifix eher als
Andenken ihres Vaters, aber verbindet damit keinerlei christlichen Glauben.
Gendou und die Dirigenten von SEELE benutzen zwar religiöses Vokabular und
Symbole, doch nur als Bezeichnungen für etwas, was sie als technischen
Fortschritt beschreiben (Ein eher paradoxer Fall, auf den später in diesem
Kapitel eingegangen werden soll). Shinji und die weiteren Hauptfiguren haben
keine Art religiöse Erziehung, sondern sind im Gegenteil sogar spirituell
desorientiert.
Eliades grundsätzliche These in Das Heilige und
das Profane ist, dass der Mensch nie vollständig säkularisiert sein kann,
weil er einerseits "seine Vergangenheit nicht endgültig auslöschen"
kann (121), anderseits aber auch, weil das religiöse Denken "die
exemplarische Lösung jeder existentiellen Krise" ist, die von Grundfragen
der menschlichen Existenz hervorgeht (124). Dies ist in Shinjis Situation
ziemlich klar reflektiert. Er ist sehr eindeutig ein Mensch voller
existentiellen Krisen, der sich auch ständig um den Sinn seines Lebens und der
Welt um ihn herum bemüht. Dieses Bemühen oder diese Suche nach Erkenntnis geht
wohl aus seinem "Unbewussten" hervor, wie Eliade sagen würde, ist es
Ausdruck eines Grundbedürfnisses nach einer religiösen Antwort zu suchen, auch
wenn es keine Indizien dafür in der Gesellschaft gibt.
So fängt Shinji mit dem was Eliade eine
"Privatmythologie" nennt (Profane 125) an, indem er über sein eigenes
leben, seine Eltern, seine Freunde, seine Ängste und Wünsche reflektiert. Vor
allem in The End of Evangelion werden aber diese persönlichen
Erfahrungen Parallel mit kosmischen Symbolen gesetzt. Er findet die Seele
seiner eigenen Mutter im EVA wieder, welcher den Namen der ersten Mutter der
Welt trägt. Rei, die er auch mit seiner Mutter assoziiert, wird ihrerseits zu
Lilith, die hier als Ursprung der Menschheit gilt. Er selber wird im EVA
stigmatisiert und gekreuzigt. Viele andere Details lassen sich so in Beziehung
bringen, doch soweit besteht das Argument darin, dass diese Parallele erst
einmal aufgestellt sind und einen Bedarf in Shinji widerspiegeln. Im nächsten
Kapitel wird versucht, einige von ihnen einzeln zu interpretieren.
Allerdings lassen die wenigen Erläuterungen, die
in den Filmen zu den einzelnen Symbolen gegeben werden, den Schluss zu, dass
Shinji selbst diese nicht genau versteht. Da er keine Bildung zum religiösen
Bewusstsein bekommen hat, erscheint auch dass, was aus ihm selbst hervorgeht,
fremd und mysteriös.
Ein weiteres Zitat von Eliade über das
säkularisierende Denken passt aber allerdings viel genauer, nicht zur
Einstellung Shinjis, sondern zur generellen Situation, die von NERV erstellt
wurde:
Der Mensch macht sich selbst, und er kann sich nur wirklich selbst machen in dem Maas, als er sich selbst und die Welt desakralisiert. Das Sakrale steht zwischen ihm und seiner Freiheit. Er kann nicht er selbst werden, ehe er nicht vollends demystifiziert ist. Er kann nicht wirklich frei sein, ehe er den letzten Gott getötet hat.(Profane 120)
Von einer aufklärerischen Perspektive aus, ist die
traditionelle Religion dem Menschen feindlich. Alles, was durch den intuitiven
Prozess des Mythos hervorgegangen ist, muss vernichtet werden, um die wahre
Sekularisierung zu erreichen. So stehen auch die alten Götter und Engel nun dem
Menschen als bedrohlich gegenüber und müssen auch aus dieser Perspektive
vernichtet werden.
In Evangelion ist letztendlich der Mensch
nicht nur in einem Kampf ums Überleben, sondern in einem Wettkampf um
"eins mit Gott" zu werden. Im areligiösen Modell, wie es auch Eliade
beschreibt, wird der Mensch schließlich zu seinem eigenen Ideal, zu seinen
eigenen Gott, indem er alle anderen Götter beseitigt und ein rein rationales
Weltbild anstrebt. Evangelion stimmt darin mit den Ausführungen Eliades’
überein, dass die Einstellung zur Sekularisierung als ziemlich radikal
dargestellt wird.
Eine derartige Tendez wäre laut Eliade
"tragisch" und unmöglich, denn: "Ein reiner Vernunfstmensch ist
eine Abstraktion, die in der Wirklichkeit nirgends auftritt" (124). In
Evangelion, dagegen, wird die Utopie durch fantastische Elemente möglich
gemacht. Genauer gesagt, es ist die Beschwörung von Lilith, die die Menschheit
in dessen "höheren Zustand" bringen soll. Dieser Prozess ist
einerseits mit unzähligen wissenschaftlichen und pseudo-wissenschaftlichen
Science-Fiction Begriffen umzingelt: die nummerierten Evangelion
"Einheiten", von denen die 00 ein "Test Type" ist, der
"Magi" Supercomputer, die Genomstudien der Engel oder dessen Blulthypus,
das "absolute terror field", die "S2 unit", usw. Auf der
visuellen Ebene wird dies von den ständigen farbflächigen Computergraphiken
dargestellt.
Anderseits aber wird diese neue Technik in der
Serie sowohl mit eindeutigen wie hierachischen Namen aus verschiedenen
religiösen Traditionen bezeichnet. Die Erscheinung des Vorstands von SEELE wird
im Laufe der Filme immer ritualisierter. Aus dieser Perspektive kann man nicht
mehr behaupten, dass es sich um ein aufklärerisches Projekt als solches
handelt. Im besten Falle könnte man eher unterstellen, dass die Sekularisierung
als solche hier als ein grundlegendes religiöses Phänomen dargestellt wird, wie
Paradox dies auch klingen mag. Der Mensch, der die Wissenschaft an die Stelle
der Götter setzt, hat nur einen neuen Gott geschaffen, die religiöse Struktur
aber beibehalten.
Diese Kombination von Religion und Wissenschaft
stimmt anderseits mit den esoterischen und gnostischen suchen einer
"heiligen Wissenschaft" überein. Esoterisch und mystisch sind
eigentlich auch die meisten Symbole, die von ihnen benutzt werden: Lilith, der
Baum des Sephiroth und die Namen der diversen Engel gehören hauptsächlich der
Kabala an. Der Speer von Longinus verweist nicht nur auf die biblische
Tradition, sondern auch auf den mittelalterlichen Reliquienkult und die
Hoffnung, eine direkte und private Beziehung zu Gott herstellen zu können. Der
endlose Knoten, den die EVA-Series auch im Himmel formen, ist ein Symbol des
Buddhismus, eine Tradition, die sich auch als Mystik für einen langen Weg zur
Erleuchtung präsentiert.
In ihrem esoterischen Charakter heben diese Symbole sich von der Spiritualität des gemeinen Menschen ab und weisen eher auf die Religion als etwas initiatisches, heimliches und entferntes, zu dem die meisten Menschen keinen Zugang haben. Dies als Parallel zur repräsentierten säkularisierten Welt zu sehen, lässt besser erkennen, wie die Situation von Shinji auch einen verbreitete Ungenügenheit der Sekularisierungsprozesses widerspiegelt.
[...]
Eine solch klar parallelistische Struktur können wir in Death and Rebirth schon durch die Verwandlung von Shinji und der Landschaft bemerken: Der Junge strebt zwar immer stärker nach einer sozialen Anerkennung und überwindet einige seiner Ängste, doch er verliert auf grausame Weise alle Menschen an die er glaubt: Rei stirbt und ihr Klon benimmt sich sichtbar anders, Asuka fällt in Depression und anschließend ins Koma, er selbst verliert sein Vertrauen an Misato und Kaworu, der Shinji sagt, er liebe ihn, stellt sich als ein verborgener Engel heraus, den Shinji selber töten muss. Zu Anfang von The End of Evangelion ist Shinji daher moralisch verwüstet. Verwüstet ist auch die Stadt Tokyo-3: Die vielen Explosionen der Engel hinterlassen Krater, die NERV versucht, als Seen zu tarnen, doch die gegen Ende des ersten Films viel zu offensichtlich sind. Ein Großteil der Stadt liegt in Trümmern und die meisten Einwohner sind entweder evakuiert oder vernichtet worden.
In ihrem esoterischen Charakter heben diese Symbole sich von der Spiritualität des gemeinen Menschen ab und weisen eher auf die Religion als etwas initiatisches, heimliches und entferntes, zu dem die meisten Menschen keinen Zugang haben. Dies als Parallel zur repräsentierten säkularisierten Welt zu sehen, lässt besser erkennen, wie die Situation von Shinji auch einen verbreitete Ungenügenheit der Sekularisierungsprozesses widerspiegelt.
[...]
4.2-Der Mensch im Zentrum des Universums
Viel von der Struktur der heiligen Symbole bei
Eliade hat mit dem Spiegelverhältnis von Mensch und Welt ab. Der Charakter des
Menschen ist durch seine Umgebung bedingt, doch die Umwelt selbst wird auch
Symbol und Verkörperlichung, sogar als ideales Vorbild der menschlichen Sitten
wahrgenommen. Der religiöse Mensch "findet in sich selbst die Heiligkeit
wieder, die er im Kosmos erkennt. Infolgedessen setzt er sein Leben dem
kosmischen Leben homolog"(Profane 96).
Eine solch klar parallelistische Struktur können wir in Death and Rebirth schon durch die Verwandlung von Shinji und der Landschaft bemerken: Der Junge strebt zwar immer stärker nach einer sozialen Anerkennung und überwindet einige seiner Ängste, doch er verliert auf grausame Weise alle Menschen an die er glaubt: Rei stirbt und ihr Klon benimmt sich sichtbar anders, Asuka fällt in Depression und anschließend ins Koma, er selbst verliert sein Vertrauen an Misato und Kaworu, der Shinji sagt, er liebe ihn, stellt sich als ein verborgener Engel heraus, den Shinji selber töten muss. Zu Anfang von The End of Evangelion ist Shinji daher moralisch verwüstet. Verwüstet ist auch die Stadt Tokyo-3: Die vielen Explosionen der Engel hinterlassen Krater, die NERV versucht, als Seen zu tarnen, doch die gegen Ende des ersten Films viel zu offensichtlich sind. Ein Großteil der Stadt liegt in Trümmern und die meisten Einwohner sind entweder evakuiert oder vernichtet worden.
Dies ist aber nur eine Vorausdeutung auf die
größeren Symbole, mit denen Shinjis Einzelfall zum kosmischen Ereignis gemacht
wird. Bereits in Teil 3.2 wurde darauf hingedeutet, dass seine
"Privatmythologie" mit älteren religiösen Symbolen in Verbindung
gesetzt wird, welches auch genau durch diesen Parallelismus zwischen
Privatleben und Landschaft geschieht und wir jetzt genauer erklären können.
Das mütterliche Prinzip, welches schon mehrmals
indirekt erwähnt wurde, lässt sich in vielen weiteren Symbolen der Geschichte
außer Yui und Misato lesen. Viele haben dabei einen mehr oder weniger
eindeutigen religiösen Ursprung. Die Abkürzung EVA trägt schließlich den Namen
der ersten Mutter der Menschheit in der abrahamischen Tradition. Diese ist vor
allem dadurch bedeutungsvoll, dass im inneren der Evangelions tatsächlich die
Seelen der Mütter der Piloten verweilen, welches auch der Grund ist, warum nur
die Children sie betreiben können. Hierdurch entsteht eine Situation, in der
das Innere des EVAs gut mit dem Uterus verglichen werden kann. Auch dieser Ort ist
schließlich ein kleiner Raum in inneren eines größeren Lebewesens, gefüllt mit
einer organischen Flüssigkeit (LCL), und wird öfters als angenehm und sicher beschrieben.
Als Misato Shinji mit einem sexuellen Versprechen in den EVA schickt, ist die
Szene auf dieser Ebene auch wieder höchst ödipisch: Das Eindringen in einem
fremden Körper wird mit der Rückkehr in die Gebärmutter assoziiert. Die
Beziehung mit der Mutter ist also gleichzeitig, wie schon in Teil 2.2
suggeriert, die Rückkehr zum Ursprung sowie die Vollendung eines gewünschten
Geschlechtsaktes.
Shinji wird aber nicht nur im Zentrum der
Gebärmutter dargestellt: Die Symbole überlagern und verschachteln sich hier
buchstäblich ineinander in einer langen Kette. Der EVA01 wird seinerseits von
den EVA-series mit den Speer von Longinus umwickelt, um sich in den Baum des
Lebens zu verwandeln. Wie Fuyutsuki kommentiert, stellt dieser die Ewigkeit in
ihren verschiedenen Deutungen dar: Die Verweigerung in einem einzigen,
unveränderlichen Zustand der Vollkommenheit oder die Wiedergeburt, die auf
immer Neuem das Leben unendlich macht (Dazu siehe 4.3). Beide Möglichkeiten
kann man auch aus der Vereinung mit dem mütterlichen Prinzip deuten, denn
Geburt und Vollkommenheit liegen beim Freudschen Ödipus beide im Mutterleib.
Ein weiteres Element der Kette, welches uns noch
ein mal zum mütterlichen Prinzip bringt, ist Rei Ayanami. In Shinjis
Privatmythologie ist sie sichtlich mit seiner Mutter assoziiert: Sie sieht Yui
nicht nur ähnlich, sondern unterhält auch eine sehr besondere Beziehung mit
Shinjis Vater. Shinji meint auch, spontan und unbewusst, dass Rei "eine
gute Mutter" sein würde. Shinjis quasiromantisches Interesse in Rei wird
somit noch ein Fall des Ödipus.
Rei verwandelt sich in End of Evangelion in
Lilith, welche hier als wirklicher Ursprung der Menschheit beschrieben wird.
Der Plan zur Vollendung der Menschheit besteht darin, durch Lilith zurück in
die Vollkommenheit vor dem Ursprung zu gelangen. An diesem Prozess nimmt
unausweichlich die Gesamtheit der Menschheit Teil. Rei taucht in der Sequenz
nicht nur als riesige, weise Figur auf, sondern auch als multiplizierte
geisterhafte Vision, die jedem einzelnen Menschen mit in den Prozess einbringt.
Rei ist in diesem Sinne ein abstrakteres Prinzip
des kosmischen Ursprungs, eine verfremdete Mutterfigur die das Prinzip strickt
unheimlich macht (Freud, Unheimliche 268), denn was einst vertraut war scheint
in ihr auch heilig, d.h. gleichzeitig übermächtig und monströs.
In ihrer riesigen Form öffnet sich auf Liliths
Stirn ein drittes Auge, welches in der indischen Tradition die mystische
Erfahrung repräsentiert und hier in erster Instanz Liliths Rolle als
transzendentes Prinzip unterstreicht. Durch dieses Auge kommt der zuvor
erörterte Baum des Lebens ins Innere Liliths und befindet sich dort im Vortex
einer Spirale in der die Seelen der ganzen Menschheit zusammenkommen. Deute man
jetzt die Kette als Ganzes: Shinjis Beziehung zu seiner Mutter(EVA), die ihn
zurück in die Vollkommenheit vor der Geburt bringt (Baum des Lebens), wird
durch die mystische Erfahrung (drittes Auge) zum Prinzip des kosmischen
Ursprungs (Lilith).
Es ist kein Wunder, dass hier viele Mediationen
zwischen dem Menschlichen und dem Heiligen nötig sind, vor allem dann, wenn der
Begriff des Sacer aufgerufen wurde. EVA als Shinjis eigene Mutter ist eine
Zwischenebene auf der noch das Vertrauen stärker als das Wunder ist, doch
insofern sie verstorben ist, kann sie auch als Sacer am Rande der Existenz
einen passenden Ort finden.
Shinjis Einzelfall wird also hier zu etwas Exemplarischen
gemacht, erfüllt eine der wichtigsten Funktionen die Eliade dem Mythos
zuschreibt (Profane 56). Eine weitere Funktion von Mythos und Ritual wird aber
gleichzeitig viel emphatischer inszeniert, nicht durch die einzelnen Symbole,
sondern gerade durch dessen verschachtelten Struktur: Im Moment des Heiligen
denkt sich der Mensch im Zentrum des Universums, denn das Heiligtum ist für
Eliade eine fundamental ontologische Funktion, durch die das Reale überhaupt
Sinn gegeben und dadurch in Existenz gerufen wird, also indem aus dem Chaos der
Kosmos hervorgeht (Profane 13). In Evangelion wird hervorgehoben, dass dieser
Akt ganz spezifisch vom Subjekt abhängt, denn Shinji kann aktiv und
differenziert entscheiden, inwiefern er die Welt annimmt oder verneint. Dies
ist ein besonderer Unterschied, der weiter zur Natur dieser wesentlichen
Entscheidung bringt, denn es handelt sich auch um die Frage der Struktur der
mythischen Zeit.
4.3-Die Ewige Rückkehr
Eliade beschreibt die Struktur des Mythos und
Rituals als die einer "ewigen Rückkehr". Durch die Erzählung des
Mythos und dessen rituellen Erlebnis wird der Schöpfungsakt wieder gegenwärtig
gemacht. Die Welt startet vom neuen und der Mensch, das Subjekt im Zentrum des
Kosmos, nimmt an dieser Schöpfung Teil (Profane 47).
Tatsächlich handelt es sich beim Plan von SEELE um
eine Rückkehr zum Ursprung, die die verlorene Vollkommenheit wiederherstellen
soll. Im Unterschied zu den meisten Mythen, die Eliade beschreibt, handelt es
sich hier aber um eine endgültige Rückkehr: Die Menschheit soll zu einem
einzigen Wesen werden und somit die Vollkommenheit erreichen, um sie nicht
wieder zu verlieren. Die Zeit wird also nicht wie ein sich wiederholender
Kreislauf gedacht. Im besten Falle ist sie noch ein einziger Rundgang, der
aber, nachdem er seine Strecke vollständig hinterlegt hat, aufhört.
Viele von den Symbolen die im Ritual beschwört
werden weisen auch auf eine Rückkehr zum Anfang und auf einen invertierten
Geburtsprozess hin. So kehrt die Menschheit nicht nur zu seiner
"Mutter" Lilith zurück, sondern tut dies sogar durch deren
"Ei" des schwarzen Mondes. Der Speer von Loginus, der seinerseits die
Form einer doppelten Helix, also einer DNA-Partikel hat, wickelt sich nach dem
Ritual in ein längliches X auf, das eher an einen Chromosom erinnert. Dadurch
wird sogar das Stadium vor der Zeugung referiert, der entfernteste Ursprung
wieder aufgesucht.
Der Plan von SEELE hat also einen ähnlich ,ödipischen’
Subtext wie Shinjis Privatmythologie, und die Beteiligung des Protagonisten in
diesem Prozess konfrontiert ihn nur noch ein Mal mit den tieferen persönlichen
Fragen: Die Versuchung des Rückzugs und die Angst vor der Verwicklung mit der
Welt. Andersherum ist zu sehen, dass die Anführer der Menschheit im Film noch
die gleichen Bedürfnisse und Einstellung des unsicheren Teenagers haben.
Ein lineares Modell der Zeit, mit Anfang und Ende,
wie es der Plan zur Vollendung der Menschheit darstellt, ist dagegen in der
abrahamischen Tradition und die davon abgeleiteten Mythologien der Aufklärung
zu finden: hier wird nicht eine zyklische Erneuerung der existierenden Welt angestrebt,
sondern ein "absolutes Ende der Geschichte"(Profane 122), in dem man
zur "Ureinheit des Zustands vor der Schöpfung" zurückkehren will
(Religionen 485). Dieser Zustand wäre ein "Überschreiten der
Polaritäten" in dem "der Geist einen bedingten, polaren und
Bruchstückigen Kosmos transzendiert" (Ibid). Es geht also gerade darum,
das Werden als Symptom der Instabilität abzuschaffen und alle Unterschiede als
Symptom der Unvollkommenheit in einer gleichförmigen Einheit aufzulösen.
In The End of Evangelion wird so ein
Zustand mit mehreren Symbolen dargestellt: Liliths Körper ist eine flüssige
Form, die sich ständig verwandelt, welches mit der Absorption von Rei anfängt,
über die physische Verwandlung hinweg geht und sogar soweit kommt, eine auch
männliche Identität im Gesicht von Kaworu zu finden, denn als kosmische Entität
überschreitet Lilith auch das Geschlecht. Die Körper der Menschen zerfließen
beim "Third Impact" zuerst alle in die gleiche Substanz einer
Ursuppe, und die Seelen begeben sich alle ins innerste einer Spirale. Wenn
Shinji an diesen Ort gelangt, überlagern sich eine Unmenge von Bildern und
Stimmen, wobei alle spezifische Formen oder Gegensätze unkenntlich werden. Der
Rest des Films besteht fast ausschließlich aus Traumvisionen, die versuchen,
das spirituelle Vorgehen darzustellen, nachdem die Körper und Einzelidentitäten
sich aufgelöst haben. Auch in diesen Visionen sieht Shinji seinen Körper und
den von Rei sich gegenseitig überschneiden und durchqueren.
Allerdings wird dieser "höhere Zustand"
von Gendou Ikari schon zu Anfang von The End of Evangelion als eine Form
des Todes beschrieben: "Der Tod kann nichts erschaffen". Er stellt
dieses Ende der Geschichte nicht als die Vollkommenheit dar, sondern als
Zerstörung. Philosophisch betrachtet kann man tatsächlich bemerken, dass dieses
Modell eine Ablehnung der existierenden Welt in ihrer Komplexität und ihrem
Werden enthält.
In diesem Sinne kann man auch die massive
Zerstörung in Death and Rebirth weiter deuten, denn es handelt sich um
eine Vorbereitung, in der Welt und Mensch (Shinji) von ihren Merkmalen und Sicherheiten
entlehrt werden, um ihren Ursprung wieder näher zu kommen. Dieser Ursprung, als
Kratophanie, ist aber zugleich auch das definitive Ende, der Tod, der im Film
jeden Moment unausweichlicher scheint.
Auch in der Initiation, wie in vielen Riten, erfährt
das Subjekt einen symbolischen Tod. Der größte Unterschied hier ist aber, dass
Eliade die Möglichkeit des endgültigen Todes ausschließt:
Vor allem aber wird klar, dass der Mensch sich bemüht, den Tod zu besiegen, indem er ihn in einen Übergangsritus verwandelt. Mir anderen Worten: für die Primitiven stirbt der Mensch immer nur einer Existenz ab, die nicht wesentlich war; er stirbt vor allem dem profanen Leben ab. Es kommt so weit, dass der Tod als die höchste Initiation betrachtet wird, als der Anfang einer neuen geistigen Existenz. Mehr noch: Geburt, Tod und Regeneration (=Wiedergeburt) wurden als drei Momente ein und desselben Mysteriums begriffen, und der archaische Mensch verwandte seine ganze geistige Kraft darauf, zu zeigen, dass es zwischen diesen Momenten keinen Bruch geben darf. Man kann nicht bei einen der drei Momenten stehen bleiben wollen. Bewegung und Regeneration gehen immer weiter.(Profane 116)
Der Prozess, den Tod als Symbol zu benutzen, ist
also retroaktiv, denn der Tod wird auch selber resemantisiert und zu einer
Verwandlung gemacht, eine Transformation die sogar positiven Wert hat. Das
Problem dagegen liegt im "stehen bleiben wollen", welches eigentlich
gerade das Projekt vom "Ende der Geschichte" und der Vollkommenheit
im Plan zur Vollendung der Menschheit ist.
Weiter ist dieser Plan auch problematisch,
insofern es sich um ein Streben handelt, in dem der Mensch das Göttliche durch
seine profane Macht erobern will. Das Streben nach dem Göttlichen ist dem
Begriff selbst inhärent, doch es ist auch paradox, da das Heilige gerade seine
Qualität verliert, sobald es profaniert wird und, wie gesagt, nur am Rande der
Gesellschaft geduldet werden kann. SEELE betreibt eine Rationalisierung und
Instrumentalisierung der Rituale, die von ihnen technifiziert und entartet
werden. Eventuell könnte man auch in diese Richtung lesen, dass der Baum des
Sephiroth im Himmel eigentlich andersherum erscheint, also mit dem Symbol des
Menschen oben und der höchsten Instanz Gottes nach unten. Der Mensch ist sich also
bewusst, Gott zu schöpfen und zu benutzen und hat somit längst seinen Respekt
vor dem Heiligen verloren.
Durch die Intervention von Shinji aber kann der
"Third Impact" immer noch in einen waren Übergangsritus verwandelt
werden. Die Zerstörung kann zu einem nur symbolischen Tod, dass heißt also, zu
einer Wiedergeburt werden. Fuyutsuki erörtert dass, als der EVA01 in den Baum
des Lebens verwickelt ist, er "einem Gott gleich" ist, weil er
entweder eine neue Welt schaffen oder alles zerstören kann. Das doppelte
Gleichnis bringt einem nicht nur ein weiteres Mal zurück zur Kratophanie,
sondern expliziert auch die Wichtigkeit der Rolle, die Shinji in diesem Moment
spielt. Der folgende Prozess des "Third Impact" ist nämlich der der
Entscheidung.
Die Entscheidung als solche spielt in Eliade eine sehr
reduzierte Rolle. Man könnte eher urteilen, dass die traditionellen
Gesellschaften, über die er berichtet, eine strickt konservative Mentalität
haben, in der alles schon vorbestimmt ist und so bleiben muss, wie es ist.
Daher hat der Mensch in diesem Modell kaum etwas über seine Existenz zu
entscheiden, denn diese hat sich schon unzählige Male vor ihm ereignet.
Die Abwesenheit von Entscheidung ist allerdings das,
was dem Menschen bei Eliade die Unsterblichkeit sichert. Gerade durch die
Entscheidung, auf die Shinji trifft, ist er auch dem Versagen ausgesetzt. Er
befindet sich, wie gesagt, in einer säkularisierten Gesellschaft, in der er
sowohl die Antworten zu seinen existentiellen Fragen wie auch den Platz in der
Welt selber finden muss. Wenn man darauf besteht, hier einen Initiationsritus
zu sehen, ist es auf jeden Fall einer, in dem der Initiand nicht automatisch in
die Gesellschaft geleitet wird, sondern von Grund aus als ein Außenseiter
gesehen wird, der seinen eigenen Wert beweisen muss, um mehr als ein Opfer zu
sein. Diese Probe des eigenen Werts ist wohl der Grund dessen, warum er, wie
vorher bemerkt, im Moment der Initiation mit der Kratophanie ganz alleine ist.
Man muss aber auch noch einmal auf das
Spiegelverhältniss zwischen Mensch und Welt zurückkommen, denn es ist nicht nur
Shinji, der in diesem Ritus geprüft wird. Was wird überhaupt an ihm geprüft? In
seinen Dialogen mit Lilith geht es sowohl um sein Selbstbild als auch um seine
Beziehung zu den Anderen. Es ist auch Shinji selbst, der entscheiden muss, ob
er die Welt annimmt, wie sie ist, oder sich in seine Träume zurückzieht.
Letztendlich steht seine persönliche Einstellung im Mittelpunkt, und eben nicht
die Akzeptanz der Gesellschaft ihm gegenüber.
Die Kommentare von Anno, die Lamarre zitiert,
reden kritisch über den Unterschied zwischen einer kindlichen und erwachsenen
Mentalität. Für den Direktor ist es entscheidend, dass ein Mensch dazu bereit
ist, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, anstatt sich in eine individuelle
Sicherheitssphäre zurückzuziehen (180). Um die Initiation durchzuhalten, ein
erwachsenes Stadion zu erreichen und einen Platz in der Welt zu finden, muss
hiernach der Mensch also gleichzeitig die Welt und sich selbst annehmen, was
spiegelhaft die Annahme des Subjekts durch die Welt bedeuten würde.
Shinji entscheidet sich dazu, die Welt anzunehmen
indem er sie noch ein mal entstehen lässt, sie also fast selbst neu schöpft. In
diesem Fall handelt es sich nicht mehr um das Streben nach Vollendung, sondern
um eine Reinszenierung des Ursprungs, der auch in die gleiche Richtung gehend, die
Welt genau so wieder entstehen lässt. In solch einem Ritus der Wiederkehr, auf
den Eliade stark besteht, nimmt der Mensch "die Verantwortung, an der
Weltschöpfung mitzuwirken" auf sich (Profane 55). Shinji selbst wäre also
nach dem "Third Impact" für die Welt mitverantwortlich. Gerade mit
der Verantwortung war, wie am Anfang gezeigt, Shinjis größtes Problem, das
viele "Erwachsene" um ihn auch mehr oder weniger teilen. Doch durch
diesen Akt von Annahme nimmt Shinji eine diametral andere Position gegenüber
der Welt ein und entscheidet sich, in ihr zu leben. Dies ist der entscheidende
Sprung in das Erwachsensein.
In der Wiederholung des Ursprungs im Ritus gibt
der Mensch auch der Welt um ihn einen neuen Sinn. Genauso gibt Shinji der Welt,
die er vorher als Chaos ablehnte, einen neuen Sinn als Kosmos. Eliade schildert
auch in diesem Fall das spiegelhafte Verhältnis, doch wie gesagt, nicht als
Entscheidung sondern als nötigen Prozess: "Indem der Mensch auf
symbolische Weise an der Vernichtung und Neuschöpfung der Welt teilnahm, wurde
auch er neu geschaffen; er wurde wiedergeboren und begann eine neue
Existenz"(Profane 46). Gleichzeitig können wir auch im Zitat von Eliade ersehen,
wie im spiegelhaften Verhältnis Initiation und Ernuerungsritus
aufeinandertreffen.
Auch der Mond, mit dem Lilith in Beziehung steht,
ist nach Eliade ein wichtiges Symbol der Erneuerung und Neuentstehung. Als
Himmelskörper ist der Mond stets wandelnd, im Werden, verschwindet sogar manche
Nächte ganz, doch kehrt immer wieder zurück. So handelt es sich um ein Symbol
der Unendlichkeit ohne ewige Stabilität oder Vollkommenheit, sondern als Teil
eines ständigen Erneuerungsprozesses. Der Neumond kann daher gleichzeitig Tod
und Neugeburt verkörpern (Religionen 180).
Die Beteiligung an der Neuschöpfung der Welt macht den Menschen allerdings auch zu einer Art Gott, genau wie es die Vollendung der Welt im Sinne der Vollkommenheit tun würde. So kommen wir also zum Zitat von Fuyutsuki zurück und sehen, wie sich beide Vorstellungen der kosmischen Zeit überschneiden und gleichzeitig ausschließen. Wir sehen auch das gleiche Verhältnis zwischen den verschiedenen Arten von Übergangsriten, denn Shinji wird im gleichen Prozess von Opfer zu Initiand und verwandelt so das Purifikationsritual der Gesellschaft in eine persönliche Initiation, in der das Kosmische und das Persönliche wieder zusammenkommen.
[...]
Literatur
Die Beteiligung an der Neuschöpfung der Welt macht den Menschen allerdings auch zu einer Art Gott, genau wie es die Vollendung der Welt im Sinne der Vollkommenheit tun würde. So kommen wir also zum Zitat von Fuyutsuki zurück und sehen, wie sich beide Vorstellungen der kosmischen Zeit überschneiden und gleichzeitig ausschließen. Wir sehen auch das gleiche Verhältnis zwischen den verschiedenen Arten von Übergangsriten, denn Shinji wird im gleichen Prozess von Opfer zu Initiand und verwandelt so das Purifikationsritual der Gesellschaft in eine persönliche Initiation, in der das Kosmische und das Persönliche wieder zusammenkommen.
[...]
Literatur
Eliade, Mircea. Die Religionen und das Heilige.
Frankfurt am Main, Insel 1998
Eliade, Mircea. Das Heilige und das Profane.
Hamburg, Rowohlt 1957
Freud, Sigmund.
"Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds". In Studienausgabe Bd. V: Sexualleben. Fischer: Frankfurt am
Main, 1972.
Freud, Sigmund.
"Das Unheimliche". In Studienausgabe Bd. IV. Fischer:
Frankfurt am Main, 1972.
Girard, René. Das Heilige und die Gewalt.
Frankfurt am Main, Fischer-Taschenbuch 1999.
Johnson-Woods, Toni (Hrsg). Manga.
London, Continuum, 2010.
Lamarre, Thomas. The Anime
Machine. Minnesota, University of Minnesota, 2009.
Papalini, Vanina A. Anime: mundos
tecnológicos, animación japonesa e imaginario social. Tucumán, La Crujía
2006.
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